In einer historisch geprägten Stadt wie Berlin kommt es nicht selten zu außergewöhnlichen Funden. Nun ist es wieder einmal auf einer Baustelle in Mitte geschehen. Die Entdeckung dieses Mal: ein äußerst gut erhaltener Tunnel, von erstaunlicher Länge.
Der Tunnel ist 80 Meter lang, 50 Zentimeter breit und 80 Zentimeter hoch. Allerdings sind „nur“ 13 Meter davon vollständig erhalten. Fundort ist die Baustelle der Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Mitte (WBM), auf der Anfang Juli 2023, bei Arbeiten im Boden der Tunnel entdeckt wurde.
Berliner Familie sollte durch den Tunnel vom Osten in den Westen fliehen
Bei dem entdeckten Stollen handelt es sich augenscheinlich um einen Fluchttunnel. Allein die Lage des Fundortes lässt es erahnen. Der Tunnel führt von der Schönholzerstraße zur Bernauerstraße, also vom ehemaligen Berliner Osten in den ehemaligen Berliner Westen.
Tatsache ist: Gebaut wurde dieser Tunnel, um einer Bauarbeiterfamilie aus Ostberlin die Flucht in den Westen zu ermöglichen. Im Frühjahr des Jahren 1970 haben Bauarbeiter aus Westberlin in der Bernauerstraße 80 diesen Tunnel angelegt, um einen Kollegen und dessen Familie rüberzuholen, so berichten es die Tunnel-Forscher und Experten der Berliner Stadtgeschichte Dietmar Arnold und Sven Felix Kellerhoff.
Tunnelbau und Fluchtplan flogen auf
Im Mai desselben Jahres unterrichtete die Staatssicherheit die zuständigen Grenztruppen der DDR. Das einst heimliche Bau-Projekt war aufgeflogen. So besetzte die Stasi am Abend des 1. Mai 1970 die Kellerräume in drei Häusern der Schönholzerstraße und wartete auf die Flüchtenden. Ob die Flucht letztlich gelungen ist oder nicht, ist nicht überliefert.
Interessant ist: Weil die Ost-West-Adressen schräg gegenüber lagen, schlägt der Tunnel einen Haken. Er verläuft unterhalb der ehemaligen südlichen Grenzmauer, über die sogenannte Höckerlinie und dem ehemaligen Postenkontrollweg. Weiter geht’s unter den damals dort positionierten Signalanlagen hindurch, bis in den Westen. Der Fluchttunnel lag damals nur zwei Meter unter den Kellerböden der Gebäude, die später im Grenzbereich abgerissen wurden.
Fund von historischer Bedeutung
Das Geheimnis um die Flucht oder Nicht-Flucht wird wohl im Verborgenen bleiben. Ein Umstand, der die Bedeutung des Tunnelfundes im Jahr 2023 nicht schmälert. Ganz im Gegenteil!
Doktor Karin Wagner, Fachbereichsleiterin für Archäologie beim Landesdenkmalamt, erklärt gegenüber der „BZ“: „Der Hohlraum blieb in den letzten fünfzig Jahren unberührt und ist sehr gut erhalten.“ Der Tunnel stelle darum eine hohe Bedeutung für die Überlieferung der Berliner Mauer dar. Der Tunnel wird nun als Denkmal ausgewiesen.